Den folgende Artikel fand ich vor wenigen Tagen in meinem Postfach. Es befand sich zwar keine Anfrage darin, ihn hier zu veröffentlichen, ich denke aber, dass dieser kurze Aufsatz es wert ist, veröffentlicht zu werden. Daher hänge ich ihn hier aus. Viel Spaß!
(For an English translation of this paper simply switch the language.)
Berlin, 28.4.2012
Das Wort ‘Wahrheit’ kann zwei grundverschiedene Begriffe annehmen
Seit den Weltkriegen wird von Politikern und Historikern ein verbissener Kampf für eine als sozial vertretbar geltende Deutung des geschichtlichen Geschehens geführt. Irgendein Spötter fragte in dem Zusammenhang, was denn die Politiker und die Historiker, die sich um die Aufarbeitung der Vergangenheit bemühen, von Gott unterscheide. Seine Antwort:
"Gott kann an der Vergangenheit nichts mehr ändern."
Gott gestaltet selbstverständlich alles. Doch die Politiker und die Historiker, die uns Deutungen über den [deutschen Strafrechtsparagraphen] §130 StGB aufzwingen, meinen wohl, sie könnten absolute Wahrheiten ebenso festschreiben, wie es offenkundig nur Gott tun kann.
Seit etwa 2000 Jahren wird mit der Deutung geschichtlichen Geschehens das soziale Miteinander koordiniert. Die Gesellschaft wird gelegentlich durch Deutungsmächtige manipuliert. Die Deutungsmacht lag lange in den Händen der katholischen Kirche, dann wurde sie mal von Nationalsozialisten und/oder Kommunisten ausgeübt. Jetzt üben andere Kräfte die Deutungsmacht aus. Gedanken-, Wissenschafts- und Meinungsfreiheit zur Frage, was sich tatsächlich ereignet hat, gibt es auch heute nicht. Das hat einen wichtigen Grund.
Es sind zwei gegensätzliche Wahrheitsbegriffe, die maßgebend für Inquisition, Gesinnungsjustiz und dergleichen waren bzw. sind. Sie führten vor Jahrtausenden zur Kreuzigung Christi, und heute bringen sie viele naturwissenschaftlich orientierte Menschen ins Gefängnis. Schon Jesus wußte um Schwierigkeiten mit dem Wahrheitsbegriff, als er sagte:
“Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!”—Lukas 23:34
Bei der nachfolgenden Betrachtung zeigt sich, daß viele Juden ein anderes Verständnis von Wahrheit haben als andere Völkerschaften.
Vor Jahrtausenden verkündete der Buddha den Wahrheitsbegriff, den auch wir verwenden und der sich so sehr vom jüdischen unterscheidet. Buddha sagte:
“Die Wahrheit ist am Anfang etwas bitter, dafür am Ende sehr süss. Die Unwahrheit hingegen am Anfang ein bisschen süss, dafür am Schluss sehr bitter.”
Jesus hatte ebenfalls einen unjüdischen Wahrheitsbegriff. Siehe dazu Johannes 8, 44. Deshalb wurde er gekreuzigt.
Den jüdischen Wahrheitsbegriff hat Elie Wiesel kundgetan, als er in einem Dialog zwischen sich und einem Rabbi ausführte:
»"Was schreibst du da?" fragte der Rabbiner. "Geschichten” antwortete ich. Er wollte wissen, welche Geschichten: "Wahre Geschichten? Über Menschen, die du kanntest?" Ja, über Dinge die passierten, oder hätten passieren können. “Aber sie passierten nicht?" Nein, nicht alle. Tatsächlich waren einige davon erfunden vom Anfang bis zum Ende. Der Rabbiner beugte sich nach vorn als nehme er Maß an mir und sagte, mehr traurig als ärgerlich: “Das bedeutet, daß du Lügen schreibst!" Ich antwortete nicht sofort. Das gescholtene Kind in mir hatte nichts zu seiner Verteidigung zu sagen. Dennoch, ich mußte mich rechtfertigen: “Die Dinge liegen nicht so einfach, Rabbiner. Manche Ereignisse geschehen, sind aber nicht wahr. Andere sind wahr, finden aber nie statt".«—Elie Wiesel, Legends of Our Time, Schocken Books, New York, 1982, Einleitung, S. viii.
Viele Leute, so auch ich und wohl sogar auch viele andere Mitmenschen, können aufgrund ihrer inneren Denkstruktur nicht akzeptieren, daß Ereignisse wahr sind, die aber nie stattfinden. Das ist die Ursache vieler Konflikte, auch des Antisemitismus.
Doch es ist sehr wohl möglich, diesen Gegensatz aufzulösen. Dazu sollte zunächst Elie Wiesels Aussage, die bisher kaum in die Öffentlichkeit gedrungen ist, allen Menschen bewußt gemacht werden. Sodann können wir mehr Verständnis für jüdisches Denken und Handeln entwickeln, denn sie leben in einer anderen Denkstruktur als wir. Unser Verständnis für Israel können wir zum Ausdruck bringen, wenn wir einschlägigen Texten eine kurze Gegenüberstellung der beiden so unterschiedlichen Wahrheitsbegriffe voranstellen und offen zugeben, wo wir selbst dem unjüdischen Wahrheitsbegriff anhängen.
Zudem glaube ich, daß beide Wahrheitsbegriffe, jeder in seiner Art, höchstwahrscheinlich von Gott in Menschen gelegt worden sind. Es mag sogar sündhaft sein, den jüdischen Wahrheitsbegriff zu kritisieren. Beide sollten m.E. nebeneinander Bestand haben. Zur Versöhnung zwischen den Menschen, die mehr dem einen, und denen, die mehr dem anderen Wahrheitsbegriff anhängen, sollten wir beitragen. Das ist möglich, wenn wir einander, wie schon erwähnt, beide Wahrheitsbegriffe und deren Gegensätzlichkeit bewußt machen.
Ergänzend möchte ich darauf hinweisen, daß Harold Pinter in seiner Nobelvorlesung über Kunst, Wahrheit & Politik folgendes ausgeführt hat:
“Es gibt keine klaren Unterschiede zwischen dem, was wirklich, und dem, was unwirklich ist, genauso wenig wie zwischen dem, was wahr, und dem, was unwahr ist. Etwas ist nicht unbedingt entweder wahr oder unwahr; es kann beides sein, wahr und unwahr."
Ich hoffe, damit einige nützliche Hinweise gegeben zu haben.