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Germar Scheerer,
A-#: 78660016,
November 27, 2000
 

 

 

© Munzinger-Archiv GmbH 2000

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Nolte, Ernst
deutscher Historiker; Prof. em. Dr. phil. /ml

 

 

 

 

Geburtstag:

11. Januar 1923 Witten

Klassifikation:

Historiker, auch Wissenschaftshistoriker

Nation:

Deutschland

 


Herkunft
Ernst Hermann Nolte wurde am 11. Jan. 1923 in Witten/Ruhr geboren. Er entstammt einer katholischen Lehrerfamilie und wuchs in Hattingen/Ruhr auf, wo sein Vater Volksschulrektor war.


Ausbildung
Nach dem Abitur 1941 studierte N. Deutsch, Griechisch und Philosophie an den Universitäten Münster, Berlin und Freiburg (u. a. bei Martin Heidegger). Im Luftschutzbunker legte er 1945 ein Notexamen ab. Von 1950 bis 1952 besuchte N. nochmals die Freiburger Universität, wo er 1952 bei Eugen Fink mit einer Arbeit über ”Selbstentfremdung und Dialektik im Deutschen Idealismus und bei Marx” promovierte. 1964 wurde N. auf Vorschlag des Historikers Theodor Schieder an der Kölner Universität habilitiert.


Doc. 16

 
Wirken
Nach Kriegsende ging N. zunächst in den Schuldienst und lehrte alte Sprachen und Deutsch an Gymnasien, von 1945 bis 1965 in Paderborn, Brühl, Neuss und Bad Godesberg. Nebenher beschäftigte er sich intensiv mit Zeitgeschichte, insbesondere mit den modernen Ideologien und ihren Gestalten im 20. Jahrhundert.
1963 veröffentlichte N. die Studie ”Der Faschismus in seiner Epoche”, die er zugleich als Habilitationsschrift einreichte. Im Gegensatz zur geläufigen Totalitarismustheorie, die Faschismus und Bolschewismus angesichts der Parallelen von politischem System und Herrschaftstechnik weitgehend gleichsetzte, betonte N. den eigenständigen Charakter der faschistischen Bewegungen. Als gesamteuropäisches Phänomen hätten sie die Epoche zwischen 1918 und 1945 geprägt. Diese konsequente Neuinterpretation des ganzen Zeitraums brachte N. so viel Anerkennung ein, dass er als Seiteneinsteiger 1964 zunächst einen Lehrauftrag als Privatdozent für Neuere Geschichte an der Universität Köln und 1965 dann einen Lehrstuhl an der Universität Marburg (Lahn) erhielt. Der von N. 1967 herausgegebene Quellenband ”Theorien über den Faschismus” galt ebenso wie seine Studie von 1963 bis in Kreise der Neuen Linken hinein als unentbehrliches Handbuch. 1973 wechselte N. an die Freie Universität Berlin, wo er bis zu seiner Emeritierung 1991 am Friedrich-Meinecke-Institut des Fachbereichs für Geschichtswissenschaft als Ordinarius für Neue Geschichte tätig war.
1974 erschien N.s Buch ”Deutschland und der Kalte Krieg”, das zusammen mit dem Erstling und dem 1983 vorgelegten Band ”Marxismus und Industrielle Revolution” eine ideologiegeschichtliche Trilogie bildete, die um die These kreiste, dass sich in der modernen bürgerlichen Gesellschaft zwei ”ideologische Vernichtungspostulate” gegenüberstünden. N. betrachtete den ”Antimarxismus” als entscheidendes Motiv bzw. die russische Revolution von 1917 als wichtigsten Bezugspunkt des Hitlerfaschismus und der damit verbundenen Auslöschung der europäischen Juden. Kritiker hielten das für eine einseitige Überbewertung und warfen ihm ”gewöhnlichen deutschen Nationalismus” (Felix Gilbert) vor.
Mit seinem im Sommer 1986 in der FAZ (6.6.1986) veröffentlichten Aufsatz ”Vergangenheit, die nicht vergehen will” gab N. den Anstoß zum so genannten ”Historikerstreit”. Er ging in diesem ursprünglich als Vortrag für die Frankfurter Römerberggespräche geschriebenen, dort aber zurückgewiesenen Text von einer ursächlichen Verknüpfung zwischen dem ”roten Terror” des revolutionären Russlands und den nationalsozialistischen Verbrechen aus und fragte: ”War nicht der 'Archipel Gulag' ursprünglicher als Auschwitz? War nicht der 'Klassenmord' der Bolschewiki das logische und faktische Prius des 'Rassenmordes' der Nationalsozialisten?” Darauf antwortete der Frankfurter Sozialphilosoph Jürgen Habermas in der ZEIT (11.7.1986), es seien in der deutschen Zeitgeschichtsschreibung seit der politischen Wende 1982 verstärkt ”apologetische Tendenzen” bei der Auseinandersetzung mit der NS-Zeit zu bemerken, d. h. revisionistische Versuche von neokonservativen Zeithistorikern, die Nazi-Verbrechen durch Abstreiten ihrer Singularität zu relativieren, womit Auschwitz ”auf das Format einer technischen Innovation” schrumpfe.
In der sich anschließenden publizistischen Großdiskussion um die ”Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung” - so der Untertitel einer Dokumentation zum ”Historikerstreit” - engagierten sich zahlreiche namhafte Vertreter der Historikerzunft, die sich fast einhellig gegen nach ihrer Auffassung wissenschaftlich abstruse und überdies politisch skandalöse Ideologeme wehrten. N. hielt jedoch an seiner These fest, dass der Archipel Gulag ”ursprünglicher” sei als Auschwitz und erklärte später, diese ”metaphorische Verkürzung” stehe für eine Forschungslücke, die er habe schließen wollen (vgl.: Die hist.-genet. Version der Totalitarismustheorie. In: Zeitschrift f. Politik, 2/1996, S. 111-122). Die Deutsche Forschungsgemeinschaft kündigte N., dessen Äußerungen auch im Ausland, besonders in Israel, für Irritationen sorgten, im Mai 1987 die Mitarbeit an dem deutsch-israelischen Editionsvorhaben der Briefe des jüdischen Schriftstellers Theodor Herzl auf.
N.s Buch ”Der Europäische Bürgerkrieg 1917-1945. Nationalsozialismus und Bolschewismus” (1987) fachte die Diskussion erneut an. Dem Autor wurde vorgeworfen, den Hitlerfaschismus als antibolschewistischen Verteidiger der europäisch-bürgerlichen Gesellschaft ins historische Recht rücken zu wollen und eine ”Entlastungsoffensive” (H. A. Winkler) zu unternehmen. Rudolph Augstein hielt dem promovierten Philosophen vor, sein Buch entlaste das deutsche Bürgertum, die Generalität und schließlich zwangsläufig den Massenmörder Adolf Hitler (vgl. SPIEGEL, 1/1988).
Auch N.s 1991 vorgelegte Untersuchung über das ”Geschichtsdenken des 20. Jahrhunderts” fand starke Beachtung bei der Kritik. Auf scharfe Ablehnung stieß sein Versuch, ”Ratlosigkeit und Unsicherheit” moderner Geschichtsdenker von Max Weber bis Hans Jonas zu beweisen sowie seine These, nach 1945 habe es in der Welt drei ”anormale”, ”außerordentliche” Staaten - die UdSSR, das geteilte Deutschland und Israel - gegeben, von denen zwei (die UdSSR und Deutschland) ”normal” geworden seien, Israel jedoch müsse diese Normalität noch erreichen, wenn es nicht der ”einzige Staat nach dem Herzen Hitlers” werden wolle. Kritiker bezeichneten das Buch als ”verfehlte Studie” (ZEIT, 8.11.1991), die in Teilen voller ”Banalität und Kokolores” (SPIEGEL, 44/1991) sei und - besonders im Abschnitt ”Der Zweite Weltkrieg und der ambivalente Sieg des 'jüdischen Messianismus'” - ”anstößige, ja abstoßende Seiten” (Ernst Schulin in: FAZ, 8.10.1991) enthalte.
Im Frühjahr 1994 erregte N. zunächst mit einem Auftritt in der SAT.1-Sendung ”Talk im Turm” im Zusammenhang mit einer Diskussion über Spielbergs Film ”Schindlers Liste” und wenig später durch Interviews, die er der italienischen Zeitung Espresso und der Woche gegeben hat, großes Aufsehen. Bei seinem Fernsehauftritt entwarf N. eine Skalierung von Verbrechen, die von den Geiselerschießungen in den Fosse Ardeatine bis zur Vernichtungsmaschinerie in Auschwitz reichte. In den Fosse Ardeatine waren Geiseln erschossen worden, weil Partisanen deutsche Soldaten getötet hatten. Das Verhältnis von 1:10 sei dabei, so N., durch damals geltende Kriegsbräuche gerade noch gerechtfertigt gewesen. Die Ermordung von etwa 33.000 Juden in Babi Jar als Antwort auf die Sprengung von 300 oder 600 deutschen Soldaten bezeichnete er dagegen als ”unverhältnismäßig”, erstens weil es sich um ein Verhältnis von 1:100 handelte, zweitens weil die Opfer ausschließlich Juden waren. Der ”fundamentale Unterschied” zwischen Katyn und Auschwitz bestand für N. darin, dass die Sowjets, die in Katyn 15.000 polnische Offiziere ermordet hatten, als ”Rationalisten” des Weltbürgerkriegs gehandelt hätten, während in Auschwitz die ”Irrationalisten” am Werk gewesen seien (vgl. FAZ, 29.3.1994). Diese Äußerungen wurden ebenso kritisiert wie N.s Bemerkungen im Zusammenhang mit einer Stellungnahme zur Regierungsbeteiligung der Neofaschisten in Italien. N. differenzierte genau zwischen ”konstitutionellem” und ”totalitärem Faschismus” und erklärte, er halte es nicht von vornherein für verwerflich, wenn eine Regierung ”in bestimmten schwierigen Situationen” für eine begrenzte Zeit ohne parlamentarische Legitimation regiere (vgl. Die Woche, 19.5.1994).
In einem Interview mit dem SPIEGEL äußerte N. 1994, er könne nicht ausschließen, dass die meisten Opfer nicht in den Gaskammern gestorben seien, sondern durch Seuchen, schlechte Behandlung und Massenerschießungen (SPIEGEL, 40/1994). Daraufhin lehnten mehrere Referenten, die neben N. bei einer Tagung zum Thema ”Jüdischer Nietzscheanismus seit 1888” hatten sprechen sollen, ihre Teilnahme ab, so dass der Veranstalter, die Stiftung Weimarer Klassik, das Symposium schließlich absagte. Ebenfalls als Reaktion auf das SPIEGEL-Interview kündigte die FAZ N. eine 25-jährige Zusammenarbeit auf.
Nach diesen Äußerungen wurde auch die Kritik im konservativen Lager unüberhörbar, vor allem seit N. das Gesetz gegen die ”Auschwitzlüge” als Gefahr für die ”geistige Freiheit” bezeichnet hatte (vgl. FR, 27.8.1994). N. war überzeugt, dass sich an seinem eigenen Fall entscheiden werde, ”ob dieses wiedervereinigte Deutschland in intellektueller Hinsicht ein freies oder ein unfreies Land ist” (zitiert in: SPIEGEL, 4.10.1994). Der Kritik, er habe sich zu einem radikalen Rechten entwickelt, setzte er 1996 entgegen, seine Position sei unverändert, seine Theorien wiesen ”ein hohes Maß an Kontinuität und Konsequenz” auf. Allerdings habe die ”deutsche Öffentlichkeit” von 1963 bis 1996 eine starke Linksverschiebung durchgemacht, so dass er, der vorher von ihr als ”Linker” betrachtet wurde, nun rechts von ihr stehe.
Große Aufmerksamkeit erregte der 1998 erschienene kontroverse Briefwechsel zwischen N. und dem 1987 verstorbenen französischen liberalen Historiker François Furet. Im Zentrum des Briefwechsels standen N.s These vom Vorbildcharakter des Stalinschen Terrors für die Judenvernichtung Hitlers und N.s Behauptung, es habe einen ”rationalen Kern” im nationalsozialistischen Judenhass gegeben. Furet, der wie N. die Beziehung zwischen Kommunismus und Faschismus zu erforschen suchte, blieb zu N.s Thesen bezüglich der Ursachen des NS-Terrors deutlich auf Distanz. Der Franzose warnte davor, Ereignisabläufe auf determinierte, kausale Abläufe zu verdichten und warf N. vor, an einem verletzten deutschen Patriotismus zu leiden.
N.s Buch ”Historische Existenz. Zwischen Anfang und Ende der Geschichte?” (1998), in dem er unter der Fragestellung, was Geschichte ausmacht, den Versuch einer erzählenden Gesamtdeutung der Historie unternahm, enthielt die Weiterführung der von ihm in den 80er Jahren aufgestellten Thesen. In dieser Abhandlung, von Kritikern als ”Zeugnis des moralischen Verfalls und des wissenschaftlichen Niedergangs” (SZ, 22.2.1999) und als ”Apologie des Antisemitismus” (NZZ, 6.10.1998) bezeichnet, behauptet er, der Massenmord an den Juden sei nicht zuletzt eine Reaktion auf die Aktivitäten der sowjetischen Partisanen gewesen und urteilt, Hitler habe ”spätestens seit dem Kriegsausbruch schwerwiegende Gründe” gehabt, ”die Juden als ein 'Feindvolk' zu betrachten und entsprechende Maßnahmen zu ergreifen”. N. verweist auf die im Alten Testament enthaltenen Vernichtungsdrohungen und macht indirekt die Juden für den gegen sie gerichteten Genozid mitverantwortlich, indem er betont, Hitlers ”Kampf um Lebensraum” habe eine ”bemerkenswerte Kenntnis des Alten Testaments” als Vorbild ”zur Voraussetzung” gehabt.
Anlässlich der Verleihung des Konrad-Adenauer-Preises für Wissenschaft im Juni 2000 geriet N. erneut in die Schlagzeilen. Die Deutschland-Stiftung, die mit diesem Preis ”Taten und Menschen” ehrt, ”die zu einer besseren Zukunft beitragen”, verlieh N. die mit 10.000 Mark dotierte Auszeichnung ”für sein herausragendes geschichtsphilosophisches Lebenswerk”. Nachdem sich die CDU-Vorsitzende Angela Merkel im Vorfeld von der Preisverleihung für N. distanziert und es abgelehnt hatte, die Laudatio zu halten, übernahm der Leiter des Münchner Instituts für Zeitgeschichte, Horst Möller, die Würdigung des Preisträgers, obwohl ihm zuvor Historikerkollegen davon abgeraten hatten, da sie in der Preisverleihung eine Sanktionierung des von N. unternommenen Versuchs, die deutsche Vergangenheit zu entschuldigen, sahen. N. nutzte seine Dankesrede dazu, die Abkehr von einer ”negativ-germanozentrischen Interpretation” der NS-Vergangenheit und von ”kollektivistischen Schuldzuschreibungen gegen Deutschland” zu fordern (vgl. ZEIT, 8.6.2000).


Werke
Veröffentlichungen u. a.: ”Der Faschismus in seiner Epoche” (63), ”Die faschistischen Bewegungen” (66; Neuaufl. 68 u. d. T. ”Die Krise des liberalen Systems und der faschistischen Bewegungen”), ”Theorien über den Faschismus” (67; Hrsg.), ”Deutschland und der Kalte Krieg” (74), ”Marxismus und Industrielle Revolution” (83), ”Der Europäische Bürgerkrieg 1917-1945. Nationalsozialismus und Bolschewismus” (87), ”Nietzsche und der Nietzscheanismus” (90), ”Geschichtsdenken im 20. Jahrhundert. Von Max Weber bis Hans Jonas” (91), ”Lehrstück oder Tragödie?” (91), ”Heidegger” (92), ”Streitpunkte. Heutige und künftige Kontroversen um den Nationalsozialismus” (93), ”Die Deutschen und ihre Vergangenheiten. Erinnerung und Vergessen von der Reichsgründung Bismarcks bis heute” (95), ”Feindliche Nähe. Kommunismus und Faschismus im 20. Jahrhundert. Ein Briefwechsel” (98, zusammen mit François Furet), ”Historische Existenz. Zwischen Anfang und Ende der Geschichte?” (98), zahlreiche Zeitschriftenbeiträge und -aufsätze, zahlreiche Übersetzungen in eine Reihe von Sprachen, vornehmlich ins Italienische und Spanische.


Auszeichnungen
Auszeichnungen: Preis des Bechtle-Verlags für Zeitgeschichtsforschung (69), Hanns-Martin-Schleyer-Preis (85), Konrad-Adenauer-Preis der Deutschland-Stiftung (00).


Mitgliedschaften
Mitgliedschaften: Gründungsmitglied des ”Bundes Freiheit der Wissenschaft”, PEN-Zentrum der BRD (73-77), seit seinem Austritt 1977 im Deutschschweizerischen PEN; Beirat der Berliner Wissenschaftlichen Gesellschaft (seit 73); Beirat des Instituts für Zeitgeschichte (79-88).
N. ist seit 1956 mit Theodore-Anneliese, geb. Mortier, verheiratet. Sie haben einen Sohn und eine Tochter (Georg Heinrich, geb. 1959, Dorothee-Elisabeth, geb. 1963).


Adresse
Friedrich-Meinecke-Institut, Habelschwerdter Allee 45, 14195 Berlin

 

 

 

 

 

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Aus: Internationales Biographisches Archiv 41/00 vom 02.10.2000